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Eine Familie wird wieder vereinigt, dank unseres Engagements von Vive Berlin Tours.

Die Installation von sechs Stolpersteinen brachte 2017 in Berlin auch den einzigen lebenden Überlebenden einer jüdischen Berliner Familie mit seinen 22 Nachkommen aus England, Israel und Argentinien endlich wieder zusammen.

Unser Mitglied und Stadtführender Blas Urioste war der Schöpfer dieses kleinen „Wunders“ und wird Ihnen mit den folgenden Zeilen aus erster Hand erzählen, wie dies möglich war.

EINE FAMILIE WIRD WIEDER VEREINIGT

Berlin hat etwas ganz Besonderes an sich. Die Geschichte, über die wir während unserer Stadtführungen sprechen, ist vor allem die Geschichte der Menschen, denen man auf der Straße begegnet und nicht etwas Abstraktes oder Vergangenes. Manchmal berührt sie einen sehr stark und bewegt einen.

Dies ist mir vor einigen Jahren passiert, bei einer Stadtführung mit einer ganz besonderen Besuchergruppe, von denen ich Ihnen gern berichten möchte.

Mauricio, Magda, Julio und Edith nahmen an einer regulären Gruppenführung namens Berlin im Dritten Reich mit unserer Genossenschaft teil. Gegen Ende der Tour begann ich, über die spezifische Vorgehensweise bei der Erarbeitung unserer Stadtführungen in Berlin zu sprechen.

Die Familie war beeindruckt von unserer Herangehensweise, insbesondere wie wir auch heikle Themen ansprechen oder die Orte auswählen, die wir während des Rundgangs zum genannten Thema besuchten.

Nach diesem Gespräch vertraute mir Mauricio an, dass er aus einer jüdischen Familie stamme und seine Großeltern wahrscheinlich 1938 in Berlin getötet worden seien. Sie befanden sich nach seiner Kenntnis im zweiten Stock einer Synagoge, die vom 9. bis 10. November dieses Jahres während der Reichskristallnacht in Brand gesteckt wurde.

Mauricio wusste sehr wenig über diese Familientragödie. Die einzigen gesicherten Fakten waren die Namen seiner Großeltern.

Die Mutter, damals ein Kind, hatte es geschafft, aus Nazi-Deutschland zu fliehen und war in Argentinien angekommen, wo Mauricio geboren wurde. Er, als Sohn einer Überlebenden des Holocaust, besuchte also mit uns zum ersten Mal die Stadt, in der seine Mutter ihre Kindheit verbracht hatte und ihre Großeltern ihr Leben auf tragische Weise verloren hatten.

Mir waren dadurch persönliche Informationen anvertraut worden, und es wurde mir schnell klar, dass diese vier Gäste nicht nur Touristen waren, die lediglich daran interessiert waren, Berlin als Urlaubsziel kennenzulernen, sondern zunächst auch drei Menschen, die den vierten (Mauricio) auf einer Reise zu seinen Wurzeln und einer verlorenen Familiengeschichte begleiteten.

WIE MAN EINEN BESUCH IN BERLIN MIT SINN ERFÜLLEN KANN

Mit den Daten von Mauricios Großeltern begann ich zu Hause in den historischen Archiven im Internet bis spät in die Nacht hinein zu recherchieren. Am nächsten Tag kehrten Mauricio, Magda, Julio und Edith an unserem Treffpunkt zurück, um an unserer geführten Tour durch die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers in Sachsenhausen teilzunehmen.

Vor Beginn dieser Tour erzählte ich Mauricio, dass ich den Namen seines Großvaters in der Liste der jüdischen Familien in Berlin 1938 gefunden hatte, aber nicht in der Liste der Opfer der Kristallnacht, und dass ich weiterhin das erwähnte Feuer in dem Gebäude bestätigen konnte, in dem seine Großeltern bis zur der Nacht des 9. November gelebt hatten.

Es war ein intensiver Moment für alle. Plötzlich begann das, was zuerst eine alte Familiengeschichte ohne Bestätigung oder genaue Kenntnisse war, mit Daten, Orten und Dokumenten etwas wirklicher zu werden.

In der folgenden Nacht setzte ich meine Recherche fort. Ich wollte selbst mehr über das Schicksal dieser beiden Menschen wissen, die von den Nazis wegen der simplen Tatsache ihrer Religionszugehörigkeit verfolgt worden waren. Am nächsten Tag begleiteten uns meine vier Gäste wieder bei einer Stadtführung, diesmal durch die Stadt Potsdam.

Vor ihrer Abreise konnte ich ihnen schließlich sogar noch den Namen ihres Großvaters auf den Listen der Familienoberhäupter von 1939 und 1940 zeigen. Dies war ein administrativer Beweis dafür, dass die Großeltern, oder zumindest der Großvater, doch nicht 1938 gestorben war, wie die Familie bisher geglaubt hatte.

Am Ende der letzten Stadtführung fragte ich sie höflich, ob sie zu dem Ort begleitet werden möchten, an dem sich das Haus ihrer Großeltern befunden hatte und an dem Mauricios Mutter ihre Kindheit verbracht hatte. Ich wusste natürlich, dass die erwähnte Synagoge zerstört worden war, zugleich aber auch, dass in den 90er Jahren dort eine Gedenktafel angebracht worden war.

Es war ein Moment großer Emotionen, als wir den Ort schließlich erreichten. Die Gedenktafel enthielt nämlich auch ein Foto des Inneren der Synagoge während einer Zeremonie, und Mauricio erkannte darauf sofort die Großmutter im Vordergrund dieses Fotos.

Wir sprachen im Anschluss lange über verschiedene Dinge und ich schlug letztlich die Möglichkeit vor, Stolpersteine zu Ehren der Großeltern installieren zu lassen. Wir alle wussten zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht, wohin sie geflohen waren und was aus ihnen geworden sein mochte.

DIE STOLPERSTEINE

Die Gruppe reiste nun Berlin wieder nach Argentinien zurück und ich setzte sie auf die Warteliste für die vorgeschlagenen Stolpersteine, indem ich mich an die für ihre Installation zuständige lokale Initiative wandte.

Allerdings blieb mir lange die Frage im Kopf, was wirklich das Schicksal dieser Menschen gewesen sein mochte. Ich recherchierte daher immer weiter und stellte schließlich fest, dass der Großvater David einige Kilometer von Berlin entfernt im Konzentrationslager Sachsenhausen interniert gewesen war, von wo aus er in das Konzentrationslager Dachau überführt und schließlich im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar getötet wurde.

Marja, die Großmutter, ist wahrscheinlich in Auschwitz gestorben (ich sage wahrscheinlich, weil es in ihrem Fall keine endgültige Sicherheit gibt, sondern lediglich Hinweise).

Am 8. September 2017 trafen sich schließlich Jahre später in der Kleinen Auguststr. 10 die Nachkommen von Marja und David, die aus drei verschiedenen Kontinenten kamen (teilweise zum ersten Mal), in denen die Eltern, Großeltern und Urgroßeltern dieser Gruppe von Argentiniern, Israelis und Engländern gelebt hatten.

Gunter Demning (der Künstler, der die Idee hatte, diese kleinen Denkmäler auf die Straße zu stellen, und der immer noch für die Installation verantwortlich ist) stellte in den Bürgersteig vor die Stelle, an der sich die Synagoge befand, in der David als Sänger fungiert hatte, zwei Steine für die vom Nationalsozialismus getöteten und vier für seine Kinder auf, die Deutschland in vier verschiedene Richtungen verließen.

Neben dem Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus ging es auch darum, die Wierdervereinigung der Überlebenden zu feiern.

EINE ZEREMONIE, DIE BERLIN VERÄNDERT HAT

In der Familiengruppe war auch eines der Kinder dieser Zeit. Ein 90-jähriger Mann, wahrscheinlich einer der letzten Juden, der seine Bar Mitzvah in Berlin gemacht hatte, war so an den Ort seiner Kindheit zurückgekehrt, war in die Stadt zurückgekehrt, aus der er geflohen war, stand auf der Straße, wo er sein Haus verbrennen gesehen hatte.

Er hatte das Nichteingreifen der Feuerwehr beobachtet, weil es ja nur verbranntes jüdisches Eigentum war, hatte die Angst seiner Eltern gespürt. Einer der Steine trägt nun seinen Namen.

Isi, wie er heute von seiner Familie liebevoll genannt wird, hatte Berlin heimlich nach Palästina verlassen, wo er heute mit seinen Kindern und Enkeln lebt. An diesem Tag erzählte er uns in erster Linie seine persönliche Geschichte und noch einmal die Tragödie, mit der er seine Jugend begann.

An diesem Tag konnte er schließlich das Kadisch aussprechen, das jüdische Gebet für die Verstorbenen, für seine Eltern.

Vor Beginn der Zeremonie näherte ich mich ihm, um mich vorzustellen. Ich tat es auf Englisch und eines seiner Enkelkinder übersetzte ins Hebräische. Er lächelte mich jedoch an und sagte: „Sie können mit mir gerne auf Deutsch reden, Ich habe sehr lange diese Sprache nicht gesprochen, aber wir können es so machen„.

Für mich als ein Enkel der für den Holocaust verantwortlichen deutschen Generation war das ein sehr bewegender Moment.

Bei der Einweihung der Stolpersteine für die Familie, in der Hebräisch, Deutsch und Spanisch gesprochen wurde, sagte Isi: „Ich bin nicht hier, um einen Kreislauf zu schließen, sondern um ein weiteres Glied in eine Kette zu legen„.

Ein Satz, den ich mir zu Herzen genommen habe, um zu beschreiben, was nach meiner Meinung unsere Aufgabe als Botschafter Berlins in unserer Tätigkeit als Stadtführende ist.

Ich persönlich glaube, dass man in diesem Beruf versuchen muss, die Erfahrung derjenigen, die einen begleiten, zu ändern, aber man muss zugleich auch stets offen sein für die Menschen, die einen selbst verändern.

Dieses Erlebnis sowie die tatkräftige Unterstützung durch unseren Kollegen und Mitglied Blas Urioste machen uns besonders stolz. Sie sind Ausdruck unseres Engagements, das wir in die Arbeit als Berliner Stadtführende einbringen.

Wir zeigen die Stadt nicht nur all denen, die den Wunsch haben, sie kennen zu lernen, sondern widmen uns auch auf einer persönlichen Ebene ausdrücklich der Erhaltung der tragischen und faszinierenden Geschichte unserer Stadt Berlin.